Heldensommer

Philipp ist 15, hat also genug mit sich selbst zu tun und ist als Sohn politisch korrekter Akademiker vom Leben eigentlich schon genug gestraft. Doch das Schicksal schlägt erneut zu, denn ihm wird wegen ungenügender Kenntnisse der französischen Sprache die mittlere Reife verwehrt. Aber zum Glück ist ein Schuldiger schnell gefunden, nämlich der – wie könnte es anders sein – zuständige Austauschlehrer, der die Schüler zudem noch mit ausgiebigen Schwärmereien über sein heldenhaftes Heimatdorf nervt.

Rache ist Blutwurst und so beschließen Philipp und sein ebenfalls gescheiterter Kumpel Borawski den verhassten Franzosen heimzusuchen und den Kopf seines geliebten Widerstandsdenkmals gegen einen hiesigen Wehrmachtsbetonschädel auszutauschen. Der erste Teil des nebulösen Plans gelingt und schon bald sind die beiden Pubertiere auf dem Weg in ein fremdes Land, dessen Sprache sie weder sprechen noch verstehen, dafür aber ausgerüstet mit schwerem Gepäck.

Die Reise verläuft hochgradig chaotisch, denn natürlich hat man nicht einmal das Nötigste eingepackt, verfügt über keinerlei Tramp-Erfahrung und auch sonst nur über wenige Fähigkeiten, die das Überleben in der unbekannten freien Natur ermöglichen. Trotzdem erreichen sie auf verschlungenen Pfaden die französische Grenze, nicht ahnend, dass Abenteuer auf sie warten, die ihr Leben für immer verändern werden…

Andi Rogenhagen, der aus der Filmbranche und dem Ruhrpott kommt, hat mit seinem „Heldensommer“ ein Stück ganz großes Kino hingelegt, einen wunderbaren Roman nicht nur über Freundschaft, Pubertät und Erwachsenwerden. Die Protagonisten sind altersbedingt hin- und hergerissen zwischen Größenwahn und Unsicherheit, Blödeleien und verantwortlichem Handeln und eine Achterbahnfahrt der Gefühle gibt es gratis obendrauf. Und ja, sie sind auch Helden, weil sie bei den wichtigen Entscheidungen richtig liegen.

Der Autor beeindruckt durch formidablen Wortwitz, die Sprache ist lakonisch humorvoll, bisweilen auch derb schnodderig, doch sie trifft stets den richtigen Ton. Sein rasanter Erzählstil ist überaus fantasievoll und spannend; Langeweile kommt an keiner Stelle auf. Kurzum: Das Buch macht richtig Spaß, klare Leseempfehlung!


Genre: Abenteuer
Illustrated by Bastei Lübbe

Nibelungenmord

Eine Drachenhöhle im Siebengebirge ist nicht nur einer der Schauplätze der berühmt-berüchtigten Nibelungensage sondern auch der Ort, an dem eine Frau ermordet aufgefunden wird. Kommissar Seidel und sein Team nehmen die Ermittlungen auf, die schnell in eine bestimmte Richtung deuten: Die Gattin des Notars und notorischen Frauenhelds Sippmeyer nämlich ist spurlos verschwunden, und das just an ihrem 40. Geburtstag mit einem Haus voll wartender Gäste. Passend dazu ist im ganzen Ort bekannt, dass der Rechtsgelehrte über eine Geliebte verfügt, die düstere Bilder mit Nibelungen-Themen malt. Aber wieder einmal sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen, denn die Tote entpuppt sich als vergleichsweise schnöde Lehrerin und die Kriminalisten stehen erneut am Anfang. Doch zum Glück gibt es ja noch die greise Kommissaren-Großmutter, die auf eigene Faust versucht, dem Enkel zu helfen…

Das Romandebüt der Germanistin Judith Merchant ist keiner der typischen Regio-Krimis, die seit einiger Zeit inflationär auf den Markt drängen und sich wie geschnitten Brot verkaufen. Zwar beeindruckt die Autorin durchaus mit malerischen Landschaften rund um den Ort Königswinter und verknüpft auch den Plot immer wieder geschickt mit Elementen aus der Nibelungensage, aber ihren Figuren fehlt der typische Lokalkolorit; sie könnten genauso gut in jeder anderen Provinz eingesetzt werden. Diese Wertung ist wohlgemerkt nicht negativ gemeint, man muss ja nicht auf jeder Welle mitreiten.

Als äußerst positiv kann vermerkt werden, dass die Polizisten-Oma nicht als betagtes Supergirl daherkommt, sondern mit den Tücken des Alters mindestens ebenso zu kämpfen hat wie mit ihren Ermittlungen. Die Sprache ist wie zu erwarten erfreulich geschliffen und souverän, auch wenn der Handlung ein bisschen mehr Stringenz gut getan hätte. „Nibelungenmord“ ist insofern ein ungewöhnlicher Krimi, als etliche genre-üblichen Zutaten wie die Details der Polizeiarbeit im Hintergrund stehen. Stattdessen bindet die Autorin ihren Protagonisten ausnahmslos emotionale Mühlsteine um den Hals, so dass es beinahe an ein Wunder grenzt, dass sie sich auch noch mit anderen Dingen als sich selbst beschäftigen können. Das birgt durchaus seinen Reiz aber eben auch die Gefahr, dass künftige Bücher von Frau Merchant auf den Kaufhaus-Wühltischen unter dem Etikett „Frauenliteratur“ verhökert werden und das wäre schade.

Die junge Autorin besitzt durchaus Potenzial, wie die im Buch enthaltene preisgekrönte und wirklich exzellente Kurzgeschichte „Monopoly“ beweist und das dort ebenfalls abgedruckte Interview macht sie richtig sympathisch. Bleibt zu hoffen, dass sie in den angekündigten folgenden Romanen einige Schwächen abstellen kann.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Knaur München

Die Arena

Ort: Chester’s Mill, ein kleines Kaff in Maine, nahe der weltberühmten Stadt Castle Rock.
Zeit: Ein wunderbarer Oktobervormittag in der nicht so fernen Zukunft.

Der gewohnte Gang des Lebens wird jäh unterbrochen, als sich eine unsichtbare riesige Kuppel über den Ort senkt und ihn somit komplett von der Außenwelt abschneidet. An der unüberwindbaren Barriere zerschellen Flugzeuge sowie Autos und Menschen, die sich ihr nähern, kommen durch explodierende I-Pods oder Herzschrittmacher zu Schaden. Nachdem der erste Schock überwunden ist, zeigen sich sehr schnell die Machtverhältnisse in der Kleinstadt: Das Sagen und alles im Griff hat der Stadtverordnete Big Jim Rennie, ein bibelfester Gebrauchtwagenhändler, der zusammen mit korrupten Kollegen eine profitable Drogenfabrik betreibt und die Krise sofort auch als Chance begreift.

Der „Dome“ über Chester’s Mill erweckt natürlich umgehend das Interesse der Sicherheitsbehörden und Militärs, die jedoch samt und sonders mit ihren teuren Spielzeugen bei den Versuchen scheitern, das Ding zu knacken. So setzen sie ihre Hoffnungen auf einen Mann, der zufällig unter den Eingeschlossenen weilt: Dale Barbara (Barbie), ein Irak-Veteran, der sich jetzt als Aushilfskoch verdingt wird flugs reaktiviert und vom Präsidenten (eindeutig Obama, auch wenn er nicht namentlich genannt ist) persönlich mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet, denn die Mächtigen vermuten, dass die Quelle für das Kraftfeld sich in der Stadt selbst befindet.

Während unter den Isolierten munter spekuliert wird, ob man es mit einem Werk Gottes, einem Angriff von Außerirdischen, Terroristen oder der eigenen Regierung zu tun hat, schart Big Jim – der nicht im Traum daran denkt, die Weisungen des Präsidenten zu befolgen – seine Truppen um sich. Jugendliche Straftäter werden als Hilfspolizisten angeheuert und unter dem Schutz der Uniform mutieren sie dann als moderne Hitler-Jugend folgerichtig zu sadistischen Mördern und Vergewaltigern. Mit der unnötigen Schließung von Supermärkten provoziert man gekonnt Aufruhr und Plünderung, um sodann den Notstand auszurufen und die kleine Diktatur perfekt zu machen. Aber auch Barbie hat Verbündete, und die braucht er dringend, denn es drängt die Zeit und nicht nur Nahrung und Energie gehen zur Neige, sondern es verändern sich auch die Lebensbedingungen innerhalb der Kuppel, wo Luftverschmutzung die Sterne rosa färbt und Sonnenuntergänge zu bizarren Spektakeln macht…

Stephen King ist ein Phänomen, nicht nur weil er der erfolgreichste Schriftsteller der Welt ist, nein, er versteht es auch immer wieder, seine zahllosen Anhänger mit neuen Plots zu begeistern, ohne dabei auf bewährte Standardthemen zu verzichten. Mit „Under the Dome“ (ich bevorzuge den Originaltitel statt der erneut selten dämlichen deutschen Variante; von einer Arena gibt es weit und breit keine Spur) ist ihm jetzt ein 1.100 Seiten starkes Epos gelungen, das den Vergleich mit seinen allergrößten Hits nicht zu scheuen braucht. Das Szenario Amok laufender Kleinstadtbürger erinnert an „Needful Things“ und die quasi-apokalyptische Eskalation des Kampfes Gut gegen Böse natürlich an „The Stand“ (man beachte zum Beispiel die Parallelen zwischen Phil Bushey und dem Mülleimermann).

Der Autor macht in eindringlicher und beklemmender Weise deutlich, wie schnell sich in einer abgeschotteten Gesellschaft in Extremsituationen autoritäre und faschistische Machtstrukturen entwickeln können, hier noch befeuert durch die abstruse Ideologie christlicher Fundamentalisten, die King in vielen seiner Werke an den Pranger stellt und genüsslich geißelt. Dennoch hält er auch Trost für den Leser parat; die Provinzdiktatur produziert konsequent ihre eigene Revolution.

King versteht wie kein Zweiter die Kunst, den Leser durch eine packende und stringente Handlung zu fesseln; auch bei mehr als tausend Seiten kommt nie Langeweile auf, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Länge der einzelnen Kapitel doch recht übersichtlich darstellt (hier sei das gestattet, da man es mit einer Vielzahl von Protagonisten zu tun hat). Er ist ein Meister der Sprache, die er perfekt beherrscht und mit der er souverän spielt; immer wieder findet der Leser faszinierende Perlen in ganzen Sätzen oder einzelnen Wendungen. Durchaus innovativ ist die Grundidee des Buches mit der unsichtbaren Kuppel und auch die Umsetzung und Auflösung am Ende sind rundum gelungen. Fazit: Kein page-turner, sondern ein page-burner!


Genre: Thriller
Illustrated by Heyne München

Der Bücherprinz

Geboren 1952 im beschaulichen Katholen-Ort Oelde in Westfalen fällt der frühe Freigeist schon in der Schule auf, da er heimlich unter der Bank Gedichte verfasst. So ist es wenig verwunderlich, dass er sich bald gegen die seit Jahrhunderten institutionalisierten Autoritäten auflehnt, zumal die Zeit dafür wie geschaffen ist: Rockmusik und lange Haare treten als Sendboten der Befreiung auch in der Provinz ihren Siegeszug an (der Autor trifft neben anderen Göttern der Szene Cream und Jimi Hendrix bei Konzerten) und sorgen für eine Revolution in den Köpfen der Jugendlichen, die immer noch unter dem Einfluss von Hitler und Adenauer leiden.

Nach einem dunkelschwarzen Kapitel hält Frieling nichts mehr in der wenig heimeligen Heimat und er flieht hinaus in die Welt. London, Jugoslawien und die Türkei sind nur einige der Stationen, bevor er sich 1969 in Westberlin niederlässt, natürlich standesgemäß in einer Kommune mit jeder Menge Sex and Drugs and Rock `n’ Roll. Es sind die Tage der Rebellion, des Kampfes gegen Vietnam-Krieg, Springer-Presse und faschistoide Herrschaftsstrukturen, und Frieling ist mittendrin. Der leidenschaftliche Leser und Schreiber erlernt das Handwerk der Fotografie und ist somit prädestiniert für eine Karriere als rasender Reporter.

Auftragsjobs jagen ihn nicht nur um die Welt, er sieht sich auch gründlich in der nahen und doch so fernen DDR um, ein Novum in der Zeit des kalten Krieges. Erfolgreiche Projekte glücken ihm zuhauf, zunehmend auch als Verfasser eigener Schriften. Nach dem Ratgeber „Autor sucht Verleger“ (eine Hilfestellung für unbekannte Nachwuchsschreiber) gründet er folgerichtig den Frieling-Verlag unter dem Motto „Verlag sucht Autoren“. Mit dieser erneuten Innovation, Interessenten gegen Bezahlung den Traum vom eigenen Buch zu ermöglichen, erweckt er weltweite Nachfrage; in 20 Jahren werden 3.000 Werke publiziert. 2003 verkauft er den Verlag und ist doch meilenweit vom Ruhestand entfernt…

„Der Bücherprinz“ ist ein einzigartiges Werk, in dem nicht nur ein entscheidender Abschnitt deutscher Nachkriegsgeschichte anschaulich dokumentiert ist, sondern auch ein wahrlich bewegtes Leben spannend wie ein Thriller erzählt wird. Dabei verklärt der Autor im Gegensatz zu anderen 68ern, die über diese wegweisende Epoche berichten, nie melancholisch; er ist sich nicht zu schade, Fehler und vermeintliche Irrwege einzugestehen. Ehrlich beleuchtet werden auch berufliche und private Schattenseiten, wobei letztere ironisch in kritischer Distanz geschildert, anstatt überhitzt aufgeregt in den Vordergrund gedrängt zu werden.

Frielings lebenslange Liebe zum geschriebenen Wort ist auf jeder Seite mit Händen zu greifen und auch mit interessanten Fotos wird der begeisterte Leser reichlich versorgt. Dazu gibt es viele kleinere Anekdoten mit berühmten Persönlichkeiten aus Presse, Funk und Fernsehen sowie pointierte Blicke hinter die Eitelkeiten des medialen Kulturbetriebs und deshalb ist diese Autobiographie für mich das Buch des Jahres.

Bei so viel Lob sei jedoch auch ein leiser Tadel erlaubt: Da der potenzielle Stoff derart umfangreich ist, hätte das Werk gut und gerne den doppelten Umfang erreichen können, ohne den Leser auch nur eine Sekunde zu langweilen. Lieber Prinz, ich fürchte, du musst wohl bald noch ´ne Schippe drauflegen …


Genre: Biographien, Briefe, Memoiren
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Onkel Wumba aus Kalumba

Wilhelm Ruprecht Frieling, prominent-distinguierter Lebemann, Multimedia-Star und stolzer Herausgeber dieses virtuellen Magazins hat wieder zugeschlagen und bringt der darbenden Fangemeinde ein neues Werk dar, trefflich betitelt „Onkel Wumba aus Kalumba“.

Dieses Mal greift der Meister kaum selbst zur Feder, sondern nimmt sich einer der Geißeln des neuen Millenniums an, indem er mit bewundernswerter Akribie Spam-Mails aus aller Welt zusammen getragen hat, die sich stets um dasselbe Thema drehen. Und nein, damit meine ich nicht die mittels Zauber-Pülverchen erreichbaren notwendigen Verlängerungen mittig-männlicher Körperteile…

Hand auf’s Herz: Wer von uns verzeichnete noch nie erhöhten Pulsschlag angesichts eines im elektronischen Postfach avisierten satten Lotteriegewinns? Wer träumte nicht schon mal von einem sorgenfreien Leben in Saus und Braus dank Dollar-Millionen, die es auf verschlungenen Pfaden völlig risikolos aus dem tiefsten Afrika nur abzugreifen gilt? Und welcher geplagte Werktätige ließe sich nicht locken mit den Versprechen absolut stressbefreiter Spitzenjobs, die selbstverständlich astronomisch dotiert sind?

In diesem Büchlein wird das begehrliche Herz fündig, dem modernen Entrepreneur steht die Internet-Welt offen und der sichere Reichtum lauert nur zwei Klicks entfernt: Mal benötigen GI’s Hilfe, um Goldschätze aus dem Irak zu schaffen, verzweifelte Prinzessinnen aus Hongkong kämpfen gegen raffgierige Familienmitglieder um ihr Erbe und stellen dafür eine großzügige Belohnung in Aussicht oder ein gutherziger Bankdirektor aus Ouagadougou in Burkina Faso (man möchte ja nicht mit den schwarzen Schafen der Nigeria-Connection verwechselt werden) verteilt guten Gewissens Schwarzgelder, wie um den gestrengen obersten Finanzherrn Steinbrück in seinem ritterlichen Kampf zu bestätigen.

Die mit viel Mühe und Fantasie gesponnenen geheimnisvollen Geschichten sind im Original enthalten, schauderhaft krudes Deutsch respektive zerbrochenes Englisch all inclusive. Autor Frieling hat diese Zeitdokumente unverändert übernommen und gibt somit nicht nur die Absender (mit kompletten Mail-Adressen und Telefonnummern) dem voyeuristischen Auge des Lesers preis, sondern entlarvt gleichzeitig auch die gierigen Tölpel, die trotz tausendfacher Warnungen immer noch auf diesen Blödsinn hereinfallen. Und wenige sind das nicht, die zwielichtige Abzocke floriert flott weiter, wie ein allmorgendlicher Blick in die Mailbox beweist…

Natürlich darf in dem Buch auch die den Hardcore-Fans wohlbekannte und heißgeliebte Titelgeschichte nicht fehlen, in der sich der Autor auf höchst humoristische Weise mit eben diesen üblen Machenschaften befasst, hört selbst:

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Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

November 1918 – Eine Deutsche Revolution

Band 1: Bürger und Soldaten

Es sind die ersten Novembertage des Jahres 1918, der Kaiser ist nach Holland geflüchtet, der Krieg für Deutschland verloren. In einem elsässischen Städtchen warten Soldaten und Zivilisten gleichermaßen gebannt auf Neuigkeiten in diesen unruhigen Zeiten der Irrungen und Wirrungen, sie hören die Kunde einer Revolution, ausgehend von Matrosen in Wilhelmshaven und von dort weiter getragen in das ganze deutsche Reich. Wir begleiten – unter anderen – den verwundeten Oberleutnant Becker, einen Gymnasiallehrer auf der Suche nach neuen Werten und dürfen miterleben, wie die tief gespaltene Bevölkerung sich auf die Besetzung durch französische Truppen vorbereitet.

Band 2: Verratenes Volk

Zerrissenheit herrscht auch in der Reichshauptstadt Berlin: Die regierenden Sozialdemokraten Ebert und Scheidemann paktieren im Geheimen mit den alten Mächten, die sich um General Hindenburg scharen; hart bedrängt von den Spartakisten Karl Liebknecht und Kurt Eisner, dem bayerischen Ministerpräsidenten, die nicht bereit sind, ihre Ideale zu verraten und deshalb auf eine echte sozialistische Revolution pochen. Doch wiederum folgen wir ebenso den einfachen Leuten auf ihren verschlungenen Wegen, treffen elegante Kriegsgewinnler und dekadente Schieber, versprengte Deserteure und lustige Witwen. Auch Becker ist wieder in Berlin bei seiner Mutter, wo er sich von den Verletzungen an Körper und Seele erholt. Die politische Krise eskaliert, als am 6. Dezember Gardesoldaten unbewaffnete Spartakus-Demonstranten angreifen und dabei etliche töten.

Band 3: Heimkehr der Fronttruppen

US-Präsident Wilson reist per Schiff nach Europa um seine humanistischen Vorstellungen einer neuen Weltordnung zu präsentieren, aber seine Vision eines gerechten und dauerhaften Friedens und der Aufbau eines Völkerbundes scheitern in der Konferenz von Versailles am Kleingeist und Egoismus der europäischen Staaten. Währenddessen kehren in Deutschland die Soldaten aus dem Krieg heim, ermüdet und desillusioniert zerfällt die einst so gefürchtete Armee. Die Reichsregierung gerät zunehmend zwischen die Fronten der Generale und Spartakisten; der Kleinbürger Ebert verliert dabei immer mehr den Überblick und auch seine letzten Ideale. Becker dagegen findet in der Krankenschwester Hilde eine neue Liebe und kämpft zusammen mit ihr gegen dunkle Dämonen der Depression und Kriegsbilder, die ihn immer wieder quälen. Schließlich gelangt er zum christlichen Glauben, allerdings zu der radikalen Variante des Neuen Testaments; eine Wandlung, die ihn Freunde und Weggefährten kostet.

Band 4: Karl und Rosa

Becker kehrt für kurze Zeit in den Schuldienst zurück, doch er bemerkt schnell, dass das nicht mehr seine Welt ist. Er verliert seine Liebste und wird auf eine harte Probe gestellt: Seine Güte und Menschlichkeit führen ihn in das von Spartakisten besetzte Polizeipräsidium, als es von Regierungstruppen angegriffen wird. Schnell erkennt er, wohin er gehört und kämpft Seite an Seite mit seinen neuen Genossen. Er wird verwundet und festgenommen, lehnt aber eine Begnadigung ab und geht für 3 Jahre ins Gefängnis. Unfähig, sich danach wieder in die ihm fremd gewordene bürgerliche Gesellschaft einzufügen, zieht er als Landstreicher und Rebell durch die Gegend, um schließlich einsam, doch mit geretteter Seele zu sterben.

Rückblende auf die Kriegsjahre: Die revolutionäre Freiheitskämpferin Rosa Luxemburg sitzt in einem Breslauer Kerker und leidet unter der ihr aufgezwungenen Tatenlosigkeit. Endlich ist der Krieg zu Ende und sie – wie auch Karl Liebknecht – wird entlassen. Die beiden gehen nach Berlin, wo sie dringend gebraucht werden, denn Reichskanzler Ebert tut dort alles, um die Revolution zu stoppen. Die Stunde scheint günstig für die Aufständischen, Liebknecht mobilisiert die Massen, doch anstatt gemeinsam dieses Potenzial zu nützen, ergehen sich die übrigen Parteiführer in endlosen Diskussionen und Theoriedebatten; es sind eben sehr deutsche Revolutionäre. Die Regierung wird von derartigen Skrupeln nicht geplagt, Ebert überlässt es seinem Bluthund Noske, die Gegenrevolution zu organisieren und der fackelt nicht lange. Inzwischen in Berlin eingetroffene Offizierstruppen jagen Karl und Rosa, fassen sie schließlich mit Hilfe von Verrätern und erschlagen die beiden auf der Stelle man schreibt den 15. Januar 1919. Die feigen Mörder gehen mit Unterstützung der sozialdemokratischen Regierung straffrei aus, die deutsche Revolution ist zu Ende.

Alfred Döblin ist den meisten Literaturfreunden wohl hauptsächlich durch „Berlin Alexanderplatz“ bekannt, ein Buch, das mich ehrlich gesagt nie sonderlich begeistert hat. In seiner Revolutionstetralogie dagegen zeigt er, dass er sein Handwerk wirklich versteht: Ohne falsches Pathos verknüpft der Autor die historische Entwicklung mit den Geschicken zahlreicher fiktiver Romanfiguren, dabei entsteht ein wunderbar schlüssiges Gesamtbild, ein Sittengemälde dieser spannenden Zeit. Trotz etlicher Nebenhandlungen verzettelt er sich nicht, der Fokus bleibt stets streng erhalten. Die Bücher sind in überschauliche Kapitel gegliedert, die sich in Stil und Inhalt bisweilen erheblich unterscheiden. Mystischen Begegnungen der Protagonisten mit Geistern, Engeln und Dämonen folgen nüchterne Beschreibungen von Truppenverschiebungen, allzu menschliche Liebesaffären werden abgelöst durch tagebuchähnliche Gedanken der Spree in Berlin und wenn es nötig ist, meldet sich der Verfasser auch selbst zu Wort.

„November 1918“ ist weitaus mehr als die Verarbeitung historischer Ereignisse, Döblin erteilt eine Geschichtslektion und bezieht Stellung: Deutlich zutage tritt seine kritische Sympathie für die Revolutionäre des Spartakusbundes (nicht umsonst trägt Band 4 den Titel „Karl und Rosa“), ebenso wie seine Verachtung für die Sozialdemokratie der Genossen Ebert und Noske, die für ihren Verrat am Volk und der Sache mit sorgfältig ausgesuchten Worten voller Zynismus und Sarkasmus bedacht werden. Aber auch die andere Seite bekommt ihr Fett weg; für eine echte Revolution waren sie wohl doch zu deutsch, Respekt vor den Symbolen des Staates, aber auch vor den Theorien ihrer geistigen Lehrer verhinderten die notwendige Spontaneität und Skrupellosigkeit.

Die vier Romane schrieb Döblin in einem Zeitraum von mehr als 15 Jahren auf der Flucht vor den Nazis im Exil. Eine der Hauptfiguren, Studienrat Dr. Friedrich Becker, trägt autobiographische Züge, denn wie der Autor findet er schließlich zum christlichen Glauben in einer radikalen Prägung, die ihm ein Verbleiben in der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich macht. Auch Döblin sah sich mit verschiedenen Problemen konfrontiert, als er nach dem zweiten Weltkrieg sein Manuskript anbot; erst in den 70er-Jahren wurde das Werk in kompletter Form veröffentlicht. Nicht nur denen, die sich für diesen Abschnitt deutscher Geschichte interessieren, sondern auch allen anderen, die einfach Freude an gepflegter Literatur empfinden lege ich es wärmstens ans Herz.

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Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by dtv München

Die Menschenleserin

Der wegen Mordes verurteilte Sektenführer Daniel Pell ist ein Manipulator ersten Ranges und auch in Gefangenschaft noch höchst gefährlich. Er hatte vor seiner Festnahme eine Gruppe von jungen AnhängerInnen um sich geschart und seine Taten (das Auslöschen einer fast kompletten Familie) erinnern fatal an die Morde von Charles Manson. Nun soll Pell im Zusammenhang mit einer weiteren Straftat von der Bundesagentin und Expertin für Verhörtechniken Kathryn Dance vernommen werden; ein Umstand, den der Bösewicht zu einer blutigen Flucht nützt. Schnell wird klar, dass der Ausbruch nur mit Unterstützung von außen gelingen konnte und so installiert man ein Team unter der Leitung der „Menschenleserin“, um den Entflohenen gleich wieder dingfest zu machen. Kathryn gräbt sich tief in Pells Vergangenheit ein, hofft sie doch, mit Hilfe der ehemaligen Sektenmitglieder Zugang zur Denkweise des Soziopathen zu erlangen. Der Plan ist zunächst erfolgreich, man kommt ihm rasch auf die Spur, aber der erfolgreiche Zugriff mag dennoch nicht gelingen. Etwas ist immer anders als es zu sein scheint und das gilt nicht nur für die Gegenwart…

Mit „Die Menschenleserin“ legt der Autor den ersten Roman mit Kathryn Dance in der Hauptrolle (sie hatte bereits einen Gastauftritt in „Der gehetzte Uhrmacher“) vor und es ist ein exzellentes Debüt. Die Protagonistin fasziniert mit ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit als menschlicher Lügendetektor, sie erkennt an Haltung, Körpersprache und Stimme, wann jemand die Unwahrheit sagt.Allerdins ist das keine übernatürliche Wahrnehmung, sondern durchaus wissenschaftlich fundiert; der Fachausdruck dafür lautet Kinesik.

Das Buch ist mitreißend und spannend, intelligent geschrieben und – wie stets bei diesem Autor – voller unerwarteter Wendungen, die den Leser zwar staunend, aber nicht ratlos zurücklassen. Die Figuren sind komplex gezeichnet und damit ist der Grundstein gelegt für ihre künftige Entwicklung in weiteren Werken dieser Reihe, ähnlich wie bei den Lincoln-Rhyme-Romanen. Freunde ansprechender Kriminalliteratur dürfen sich also freuen, denn in einem Brief an die Leser hat Deaver versprochen, nach einem neuen Abenteuer mit dem gelähmten Forensikexperten ein zweites Buch mit Kathryn Dance folgen zu lassen. Bis dahin wäre es allerdings erst einmal angebracht, dass sich ein Verlag dazu entschließt, endlich „Garden of Beasts“ auch auf Deutsch zu veröffentlichen, ein packender Thriller, der in Berlin während der Nazi-Diktatur spielt.

Interessierten Lesern sei auch die offizielle Website des Schriftstellers empfohlen: http://www.jefferydeaver.com

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Genre: Thriller
Illustrated by Blanvalet

Harte Männer tanzen nicht

Der Schriftsteller Tim Madden ist allein. Vor 24 Tagen hat ihn seine Frau Patty Lareine verlassen und nun ertränkt er seine Depressionen in Bourbon, was ihm in dem kleinen neuenglischen Kaff Provincetown nicht schwer fällt. Die Arbeit an dem geplanten Buch „In unserer Wildnis — Studien unter geistig Gesunden“ geht nicht so recht voran und so trifft es sich gut, dass er an diesem Abend in der Bar, in der er Stammgast ist, ein Pärchen kennen lernt, die Blondine Jessica und ihren Begleiter Lonnie.

Danach setzt Maddens Erinnerung aus, denn der Alkohol fließt in Strömen. Als er am nächsten Morgen erwacht, hat er eine neue Tätowierung am Arm, seine Kleidung und sein Wagen sind voller Blut und in seiner Erinnerung tauchen bruchstückhaft Bilder auf, Flashbacks, denen er aber nicht trauen kann, da er nicht sicher ist ob sie real oder seiner Phatasie entsprungen sind. Nach einem (unfreiwilligen) Gespräch mit dem Polizeichef will er sein Marihuana-Versteck überprüfen und findet dort einen abgetrennten Frauenkopf…

Norman Mailer ist einer der großen amerikanischen Schriftsteller, er schert sich einen Dreck um das, was man heute „political correctness“ nennt; seine Sprache ist ungeheuer kraftvoll, bisweilen derb und damit erschafft er prächtige Bilder und Figuren. All diese Fähigkeiten beweist er auch in „Harte Männer tanzen nicht“, eine Geschichte einer außergewöhnlichen Vater-Sohn-Beziehung und zugleich eine schonungslose Darstellung des verlogenen amerikanischen Kleinstadtmilieus, unter dessen Oberfläche Drogen, Hass, Sex und Gewalt lauern. Abgesehen davon liefert der Autor auch noch einen veritablen Thriller um brutale Morde und verschwundene Leichen. „Harte Männer tanzen nicht“ wurde auch durchaus gelungen verfilmt, die Regie führte Mailer selbst.

Zum Abschluss möchte ich euch nicht vorenthalten, woher der Titel des Romans stammt, es ist eine Episode, die Maddens Vater seinem Sohn erzählt: Der Mafia-Boss Frank Costello saß einmal mit seiner Freundin Gloria und einigen seiner Jungs in einem Nachtclub. Die Band spielt und Frank fordert seine Begleiter nacheinander auf, mit Gloria zu tanzen. Zuerst zieren sie sich, es ist schließlich die Freundin vom Chef, aber dann verlieren sie die Scheu und finden auch Gefallen daran. Einer von ihnen ist besonders mutig und fragt den Boss auf Glorias Bitte hin, ob er nicht auch eine flotte Sohle aufs Parkett legen wolle. Costello sieht ihn nur an, schüttelt langsam den Kopf und antwortet: „Harte Männer tanzen nicht.“

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Genre: Thriller
Illustrated by Ullstein Berlin